18. Mai | Montag, 19:00 | Rote Flora, Schulterblatt 71
Çağrı Kahveci und Joana-Eve Rendelmann
Spätestens die öffentlichen Debatten, angestoßen durch das Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ machten den/die arme muslimische Migrant_in zur zentralen sozialen Figur, verantwortlich für die Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, worauf es bei der gegenwärtigen Formation /Konjunktur des Rassismus ankommt. Bei dieser Figur werden die typischen Aspekte der Rassifizierung einer sozialen Gruppe in einem Diskurs verdichtet: materieller und geistiger Elend, Kriminalität, Unberechenbarkeit, Unproduktivität, Unreflektiertheit etc. Allen voran werden sie als bildungsferne, arbeitslose Sozialleistungsempfänger beschrieben, die das deutsche Sozialsystem aus dem Gleichgewicht bringe. Bei der Beschreibung dieser Figur offenbart sich unleugbar die Verschränkung des Klassenrassismus mit gängigen biologisch/kulturellen Rassismus. Des Weiteren lassen sich Sarrazins Eingriff und die damit eingehende Skandalisierung des unproduktiven und undisziplinierten Körpers der armen, muslimischen Migrant_innen zweifellos als eine nationalistische Bewältigungsstrategie der ökonomischen Krise des Kapitalismus lesen. Die politische Ökonomie des Körpers des armen Migranten muss, wenn er nicht verzichtet werden darf, zumindest durch die Diffamierung und durch die ständige Drohung der Sanktionen produktiv (unterworfen) gemacht werden, damit der Prozess der Kapitalakkumulation besser verläuft.
Nun finden sich unter der politischen Elite dezente Stimmen „der sozialen Kohäsion eines authentischen sozialdemokratischen Regimes“ (Gilroy 2004, S. 135), die die prekären Lage der Migrant_innen eher sozial verursacht sehen. Auf den ersten Blick erscheint deren Intervention als eine Korrektur zur Ethnisierung der sozialen Probleme zu sein, da sie den „Armut“ statt der Ethnizität, Herkunft etc. in den Fokus der Betrachtung stellen. Allerdings verbirgt sich dahinter nur eine leichte Diskursverschiebung: Denn dabei wird Armut ähnlich naturalisiert wie die Ethnizität oder kulturelle Zugehörigkeit der Migrant_innen. Es wird von der „Vererbung“ von Armut und sozialer Ungleichheit gesprochen. Die soziale Hierarchie wird nicht als ein Resultat von gesellschaftlicher Konflikte, politischer Entscheidungen, historischer Ausgrenzungen gesehen, sondern als eine selbstverständliche Folge der individuellen und/oder kulturellen Leistungsschwäche (Karakayali 2011). Diese Fokusverschiebung greift die historische Debatte um die „gefährlichen Klassen“ bzw. „underclass“ auf und naturalisiert die soziale Unterschiede. Diese geht aber mit einer rassistischen Differenzierung einher bzw. beide Prozesse greifen ineinander. Dabei bedient sichd die neue Machttechnologie nicht nur das Wissen, sondern immateriellen Kapazitäten des Körpers zum Denken, Fühlen und Verstehen…
Dr. des. phil. Çağrı Kahveci arbeitet zu Migrationsforschung, sozialen Bewegungen und Soziologie der Emotionen. Er ist aktiv bei allmende e.v , dem Haus alternativer Migrationspolitik und Kultur.
Joana-Eve Rendelmann ist Studentin der Soziologie und Politikwissenschaft und Mitglied bei der Zeitschrift ZAG.